Die Neuerfindung der Städte

Forscher sagen, dass Milliarden Menschen in die Metropolen ziehen werden.

Wie werden wir zukünftig dort leben?

 

 


Bis zur Mitte dieses Jahrhunderts werden drei von vier Menschen in Städten leben. 6,5 Milliarden Menschen müssen dann mit Wohnungen, Jobs, Nahrung, Wasser und Energie versorgt werden. Wissenschaftler geben dem Menschen einen neuen Namen: „hypermobiles Individuum“. Für Forscher hat begonnen, was sie den „Umzug der Menschheit“ nennen. Das Wachstum der Städte sei so ungeheuer, dass es dringend in neue Bahnen gelenkt werden müsse.

 

Es ist eines der beeindruckendsten Beispiele einer rasanten Entwicklung: Allein in China wurde innerhalb von nur drei Jahren, von 2008 bis 2010, mehr Zement verbaut als in den Vereinigten Staaten von Amerika im gesamten 20. Jahrhundert. Wohnungen werden aus dem Boden gestampft, ganze Stadtviertel neu gebaut. 90 Prozent des erwarteten Städtewachstums sollen vor allem in Asien und Afrika erfolgen, sagen die Wissenschaftler voraus.

Den Regierungen blieben nur noch dreieinhalb Jahrzehnte, um die Städte so umzubauen, dass die Bewohner nicht in unzumutbare Wohn- und Lebensverhältnisse geraten, warnt Dirk Messner, WBGU-Chef und Direktor des Deutschen Instituts für Entwicklungspolitik. Die Forscher empfehlen, jedem Stadtbewohner weltweit bis zum Jahr 2030 Zugang zu „bezahlbarer, verlässlicher, nachhaltiger und zeitgemäßer Energie“ zu sichern und bis spätestens 2070 alle CO2-Emissionsquellen, etwa im Verkehr und der Industrie, durch Alternativen zu ersetzen. Sie werben dafür, so zu planen, dass kurze Wege zwischen Stadt und Arbeit garantiert sind, dass Radfahrer und Fußgänger genug Platz haben. Dazu müssten Städte nun „im Zeitraffer“ neu erfunden werden, so die Regierungsberater. Klimaforscher und WBGU-Vorsitzender Hans Joachim Schellnhuber fordert zum Umdenken auf: Baue die Menschheit die neuen Städte wie bisher mit Zement und Stahl, sagt er, sei der Kampf gegen den Klimawandel nicht zu schaffen. Allein die Herstellung der Baumaterialien würde zu viel Energie kosten. Die Alternativen seien Holz, Lehm oder smarte Materialien wie Carbon.

Die Vision der insgesamt neun Experten im WBGU: Damit die Aufnahme der neuen Stadtbewohner besser bewältig werden kann, sollen menschliche Siedlungen künftig aus mehreren Zentren bestehen. Keine Megastädte, mit einem neuen Vorort nach dem anderen, sondern Regionen mit vielen Mittelzentren, wie sie es in Europa seit jeher gibt. Regionen, die der Bucht von San Francisco ähneln. Oder dem Ruhrgebiet, Ballungsraum mit über fünf Millionen Einwohnern. Das heißt: Es sollen Verbünde mittelgroßer Städte entstehen, die leichter zu regieren sind. Für sie müssten Lebensmittel, Energie und Wasser nicht von weit her herangekarrt werden. So habe Nordrhein-Westfalen, sagt Messner, schon in den 70er-Jahren Universitäten in kleinere Zentren gebracht, etwa nach Paderborn oder Bielefeld. Das steigere die Attraktivität. Und das nördliche Ruhrgebiet, so Messner, sei ein modernes, international vernetztes Zentrum.

 

Vor allem aber schlagen die WBGUler vor, dass dauerklamme Kommunen mehr Finanzspielräume bekommen. In Ländern wie Kenia würden bisher nur 1,2 Prozent der öffentlichen Ausgaben von lokalen Akteuren investiert. In Dänemark läge dieser Anteil bei 62 Prozent. Anders ausgedrückt: Bürgermeister der neuen Städte sollten mehr zu sagen haben.

Quelle: Hamburger Abendblatt vom 27.4.16

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